Liesborn/Essen (mw/bb). Allein die Zahlen lassen erahnen, welcher Kraftakt hinter der Leistung von Thomas de Nocker (geb. Suermann) liegt: 11,4 Kilometer Schwimmen, 540 Kilometer Radfahren und 126,6 Kilometer Laufen am Stück stecken dem in Liesborn-Göttingen aufgewachsenen BWL-Professor in den Knochen. Das alles in 42 Stunden und belohnt mit dem 5. Platz bei der Weltmeisterschaft im Ultra-Triathlon auf der dreifachen Ironman-Distanz. Wie schafft man es, so lange auf den Beinen zu bleiben? Was treibt einen dabei an? Mein Wadersloh konnte mit Thomas ein paar Tage nach dem Wettkampf ein Interview führen.
Die ersten Laufrunden im heimischen Liesborn-Göttingen
„Das Interesse an Leichtathletik und Laufen habe ich schon in meiner Jugend entwickelt. Beim SV Westfalen Liesborn hat damals alles angefangen. Ich erinnere mich noch heute an das Leichtathletiktraining bei Hans Hendricks“, sagt der 41-Jährige, der heute mit seiner Frau und vier Kindern in Essen lebt und arbeitet. Das Laufhemd und den Trainingsanzug seines einstigen Heimatvereins hat er noch heute im Kleiderschrank hängen, auch wenn er seine sportliche Heimat heute der Triathlonverein TRC Essen 84 ist.
In seiner alten Heimat Liesborn-Göttingen hingegen fieberten Familie, Freunde und Bekannte am letzten Juli-Wochenende mit dem Ultratriathleten mit. „Es gab durchaus auch Skepsis im Vorfeld. Nicht nur meine Eltern hatten sich Sorgen gemacht, ob man so eine starke Belastung gesundheitlich schaffen kann“; sagt Thomas. Für viele Sportlerinnen und Sportler wäre schon die Teilnahme an einem einfachen Ironman die Erfüllung eines Lebenstraumes. Diese Triathlon-Langdistanz, die sich aus 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und einem Marathon (42,195 Kilometer) zusammensetzt, gilt als Königsdisziplin. Das alles aber in jeweils in dreifachem Umfang zu schaffen? Eigentlich undenkbar.
Für Thomas war das Ironman-Triple bei der Weltmeisterschaft im schleswig-holsteinischen Lensahn ein Herzensprojekt, seine sportlichen Wurzeln liegen aber lange zurück „Nachdem ich als Jugendlicher beim SV Westfalen Liesborn und bei Blau-Weiß Eickelborn das Laufen und Schwimmen für mich entdeckt habe, habe ich später als Jugendlicher eigentlich nie sonderlich viel Sport gemacht. Im Abi war Sport sogar mein schlechtestes Schulfach. Meinen ersten Marathon bin ich dann 2007 während meines Studiums in Münster gelaufen. Zu der Zeit habe ich mich dann auch mein erstes Rennrad gekauft“, blickt Thomas zurück. Während seiner Promotion und zu Beginn der beruflichen Laufbahn trat der Sport dann wieder stark in den Hintergrund. Familie und Arbeit hatten Vorrang.
Das Projekt Triathlon nimmt Gestalt an
Erst im Frühjahr 2019 animierte ihn ein Freund dazu, wieder einen Marathon anzugehen. „Ich plane gerne etwas und schnell war auch das Projekt Triathlon geboren. Natürlich erfordert das viel Vorbereitungszeit. Ich schloss mit meiner Frau im Sommerurlaub den Deal, dass ich einen Ironman absolvieren darf und sie dafür ein zweites Pony bekommt“; sagt der Hobbytriathlet mit einem Augenzwinkern.
Nach der Corona-Pause folgte 2021 seine Ironman-Premiere in Hamburg. „Leider ohne Zuschauer und daher mit wenig Stimmung vor Ort. Trotzdem konnte ich mit 11,5 Stunden eine wirklich solide Zeit erreichen. Danach wollte ich aber dranbleiben und im Jahr darauf nochmal bei solch einem Wettkampf starten. Ich hatte das Gefühl, dass da noch Luft nach oben ist und regelmäßiger Sport tut mir in meinem Alltag gut“, sagt Thomas. 2022 trat er in Frankfurt am Main erneut bei einem Ironman-Wettbewerb an und verbesserte seine Zeit um gut eine halbe Stunde, diesmal mit neuem Triathlon-Fahrrad und unterstützt durch einen erfahrenen Trainer. „Für so eine sportliche Herausforderung muss man schon intensiv trainieren, aber man darf dem Körper nicht zu viel zumuten. Und für solch einen langen Wettkampf muss die Ernährung und die Geschwindigkeitsvorgaben auch gut geplant werden, damit man es überhaupt ins Ziel schafft.“
Nach dem Rennen in Frankfurt war bei Thomas für das Jahr eigentlich kein weiterer Wettkampf geplant. „Durch Zufall habe ich dann aber von einer Ultra-Triathlon-Veranstaltung gehört, bei der jeweils die doppelten Ironman-Distanzen aufgerufen wurden. Weil ich fit war und das spannend fand, habe ich mich spontan dort angemeldet. In Lensahn in Schleswig-Holstein konnte ich das sogenannte ,Double‘ dann auch erfolgreich beenden. Ich habe gemerkt, dass mir die ganz langen Distanzen liegen. Ich habe einen robusten Körper, der die Belastung vergleichsweise gut wegstecken kann und ich kann mich auch dazu bringen, stundenlang monoton im Kreis zu laufen.“ Für die 7,4 km schwimmen, 360 km Rad fahren und die 84 km Laufstrecke am Schluss benötigte er insgesamt 25,5 Stunden.
Anders als bei großen Ironman-Wettkämpfen mit zahlreichen Teilnehmenden sind bei Wettkämpfen wie in Lensahn nur wenige Athleten am Start. Die Strecken sind auch kompakter: Geschwommen wird im Freibad, Rad gefahren auf einer 8 km langen Pendelstrecken bis zum Nachbarort und gelaufen auf einer 1,3 km langen Runde durch ein Wohngebiet. So können alle Starter eng betreut werden.
111 Kilometer mit 5.000 Höhenmetern um die „Zugspitze“
Die Geschichte ging für Thomas weiter, als im Herbst 2022 angekündigt wurde, dass Lensahn den Zuschlag als Austragungsort für die Weltmeisterschaft auf der dreifachen Ironman-Distanz im Ultra-Triathlon erhalten hat. „In dem Moment brannten direkt meine Oberschenkel in Erinnerung an den Double. Es war irgendwie klar, dass ich da mein Glück versuchen muss und habe mich sofort angemeldet“, sagt Thomas und seine Augen leuchten kurz auf. Ab diesem Moment lief der Countdown für das neue Projekt. „Der Körper musste im Training noch weiter an solch langen Distanzen gewöhnt werden, die Trainingsplanung wurde darauf eingestellt. Und regelmäßige sportmedizinische Untersuchungen gehören selbstverständlich auch dazu.“ Quasi als Trainingseinheit nahm er Mitte Juni auch am Berglauf „Zugspitz Ultratrail“ über 111 km und mit 5.000 Höhenmetern teil, um das lange Laufen durch die Nacht zu üben. „Das war für mich mental ganz wichtig, zu sehen, dass ich solche Distanzen schaffen kann, auch wenn einem zwischendurch die Phantasie fehlt, wo die Kraft herkommen soll, den nächsten Berg hochzukommen.“
„In dem Moment brannten direkt meine Oberschenkel in Erinnerung an den Double. Es war irgendwie klar, dass ich da mein Glück versuchen muss und habe mich sofort angemeldet“
Thomas de Nocker über die Anmeldung zum dreifachen Ironman
Vom Wasser aufs Rad und dann zu Fuß weiter: Eine spannende Aufholjagd nimmt ihren Lauf
Das große WM-Wochenende ganz im Zeichen des Laufens, Schwimmens und Radfahrens war das letzte Juli-Wochenende. Gemeinsam mit seiner guten Freundin Anja Pötting und deren Eltern Franz-Josef und Elke Dirkes ging es auf nach Lensahn an der Ostsee. Vor Ort kümmerten sich die drei um die Verpflegung und Betreuung von Thomas. „Die Reaktionen im Vorfeld waren durchaus wieder gemischt, immer irgendwo zwischen Unverständnis, Sorge und Bewunderung, sich solch einer Aufgabe zu stellen. Spannend fanden das aber trotzdem viele, so dass Anja auch die Aufgabe hatte, regelmäßig via WhatsApp über Zwischenstände und Wohlergehen zu berichten.“
„Die Reaktionen im Vorfeld waren durchaus wieder gemischt, immer irgendwo zwischen Unverständnis, Sorge und Bewunderung, sich solch einer Aufgabe zu stellen.
Thomas de Nocker zu den Reaktionen aus seinem Umfeld vor der WM
In einem Wohnmobil an der Laufrunde und einem Pavillon an der Radstrecke wird Stellung bezogen. Es geht insgesamt familiär zu in Lensahn. Nur rund 40 Personen umfasst das Starterfeld beim Triple. Freitagmorgen um 7 Uhr fällt der Startschuss im Freibad. Nach 228 Bahnen und 4,5 Stunden geht Thomas als 20. aus dem Wasser, um sich dann für 540 km auf 68 Runden auf das Fahrrad zu schwingen. Es folgt eine Aufholjagd und er steigt samstagmorgens als Siebtplatzierter vom Rad. Da haben erste Sportler den Wettkampf schon aufgegeben. „Ich habe auf dem Rad gut meinen Rhythmus gefunden und konnte ohne Pause durchfahren. Zum Schluss wurde es zäh, weil es zu regnen begann, aber 28 km/h konnte ich im Durchschnitt fahren.“
Im Anschluss stehen noch drei Marathons am Stück für Thomas an, 126,6 km verteilt auf 98 Runden. „Die Beine waren nach dem Radfahren erstaunlich fit, aber mein Nacken und meine Oberarme komplett verspannt. Leider hatte ich kurz vor der WM einen meiner Laufschuhe verloren und musste kurzfristig Ersatz besorgen. Aber nach einem Platzregen am Mittag waren sowieso alle durchnässt, so dass ich die neuen Ersatzschuhe dann auch wechseln musste.“
Ich wusste wirklich nicht, wie das noch zu schaffen sei. Aber einfach stehen bleiben ist da keine Option.
Thomas de Nocker 76 Kilometer vor dem Ziel
Es folgen lange Stunden des Laufens im Kreis, immer wieder am Wohnmobil entlang und verbunden mit der Erinnerung, doch daran zu denken, genug zu essen. „Bei so vielen Stunden half mir Musik zur Ablenkung und ein fester Laufplan: Das Drittel der Runden, bei dem es leicht bergauf ging, bin ich immer gegangen, den Rest gelaufen. So konnte ich mich immer mit Gehpausen belohnen. Insgesamt habe ich versucht, nur in einzelnen Runden und nicht an die lange Reststrecke zu denken. Ich kann mich aber trotzdem noch an einen Moment erinnern, als noch 76 km vor mir lagen. Ich wusste wirklich nicht, wie das noch zu schaffen sei. Aber einfach stehen bleiben ist da keine Option. Irgendwann geht es auch gar nicht mehr darum, ob die Blasen an den Füßen schmerzen, dann ist Weiterkommen fast nur Kopfsache. Da geht es nur ums Wollen und Dranbleiben.“
Ein Überraschungsbesuch wird zum Energiebooster beim Endspurt
Der emotionale Höhepunkt des gesamten Wettbewerbs kommt 60 Kilometer vor dem Ziel: Knapp 1,5 Marathon-Distanzen trennen Thomas noch vom finalen Laufkilometer. „Völlig überraschend tauchten meine Frau und unsere vier Kinder am Nachmittag an der Laufstrecke auf. Sie hatten sich auf die 5,5 Stunden-Reise gemacht, um mich vor Ort anzufeuern. Alle hatten den Wettbewerbsverlauf schon die ganze Zeit auf dem Handy verfolgt und beim Frühstück spontan beschlossen zu kommen. Groß Zeit verbringen konnte ich mit Ihnen aber nicht, sondern nur daran arbeiten, dass ich schnell fertig werde.“
Die wachsende Unterstützerschar war auch nötig. „Es wurde immer zäher. Die Füße schmerzten und ich wurde einfach müde. Die letzten 20 Runden ist Franz-Josef einfach mit dem Fahrrad neben mir hergefahren. Groß unterhalten konnte und wollte ich mich nicht, aber er konnte aufpassen, dass ich mich nicht doch irgendwann auf eine Parkbank setze und nicht wieder hochkomme. Natürlich hatte ich auch eine Pause machen können. Aber geht es mir danach wirklich besser? Und kann ich weiterlaufen, wenn ich einmal erst geschlafen habe? Dann lieber Zähne zusammen beißen.“
Inzwischen hat sich Thomas bis auf Platz 5 vorgekämpft. Sein Ursprungsziel war es, im vorgegebenen Zeitlimit von 58 Stunden anzukommen, bestenfalls die Durchschnittszielzeit von 48 Stunden zu unterbieten. Stattdessen brauchte er nur 42 Stunden. Um 1 Uhr nachts am Sonntagmorgen war es dann so weit, nur noch eine Runde war zu laufen, so zeigte die elektronische Zeitmessung an: „Die letzte Runde läuft man gegen die ursprüngliche Laufrichtung, um sich von den anderen Teilnehmern auf der Strecke zu verabschieden. Im Anschluss geht es dann ins Ziel. Das ist schon ein tolles Gefühl, solch einen langen Wettkampf so zu beenden und sich endlich in Ruhe hinsetzen zu können. Für die Kinder war es auch ein tolles Erlebnis und ich glaube, die sind ganz stolz, dass ihr Papa bei einer Weltmeisterschaft Fünfter geworden ist.“
Die Frage nach dem Warum und ein Ausblick
Eine Frage aber bleibt nach dem Zieleinlauf: Warum stellt sich jemand der Herausforderung, einen dreifachen Ultra-Triathlon zu schaffen? „Warum? Tja, weil‘s geht!“, antwortet der 41-Jährige kurz und knapp. „Weil es eine spannende Herausforderung ist, der ich mich stellen wollte.“
Der Hinweis, dass ein richtig ordentlicher Schützenfestbesuch im Durchschnitt gefährlicher ist, als die Teilnahme an einem Ultra-Triathlon kann laut Thomas aber die Vorbehalte nicht bei allen ausräumen. „Man muss ja auch bedenken, dass niemand sich einfach nur so ohne Training an solch lange Distanzen wagt. Sehnen, Muskel und Knochen, das gesamte Herz-Kreislaufsystem muss ja an solche Belastungen gewöhnt werden. Aus dem Stand kann ja auch niemand Spagat, das muss man ja auch üben.“
Was bleibt ist das Gefühl, dass man eigene Grenzen verschieben kann.
Thomas auf die Frage, warum er den Triple schaffen wollte
Ob er einen weiteren Ultra-Triathlon machen wird, hat er noch nicht entschieden. „Derzeit habe ich keine Ambitionen, Sport reizt mich gerade gar nicht. Jetzt stehen erst einmal zwei Monate Regeneration an, die braucht mein Körper. Ich merke, wie tiefenerschöpft der ist und wie mich der Wettkampf geschlaucht hat.“
Was bleibt ist das Gefühl, dass man eigene Grenzen verschieben kann, so Thomas. „Ich nehme aus dem Wettkampf die Gewissheit mit, dass man fast alles erreichen kann, wenn man wirklich will.“
Fotos: Anja Pötting/Privat