Wadersloh / Irgendwo auf der Welt (mw/bb). Hand aufs Herz: Wer könnte sich heutzutage ein Leben ohne Smartphone vorstellen? Eben schnell Mails checken, WhatsApp-Nachrichten lesen und im TikTok-Feed versinken. Für viele gehört das zum Alltag dazu. Für Wandergesellen trifft das aber nicht zu. Ihre Geschichten könnten wohl ganze Bücher füllen. Es geht um die Liebe zum Handwerk, um menschliche Begegnungen und das „Unterwegssein“. Sieben auf einen Streich machen in diesen Tagen in Wadersloh Station (Anm. d. Red. Es waren sechs Wandergesellen und ein Pfadfinder). Bei der Zimmerei Bühlbecker haben sie ein Dach über den Kopf bekommen und wer sich die Zeit nimmt und mit ihnen ins Gespräch kommt, muss demütig zugeben: Diese „analoge“ Leben ist großartig.
Kurz vor Sonnenuntergang klingelt das Telefon in der Redaktion. Anna Marras, Leiterin des Jugendtreffs Villa Mauritz, meldet sich am anderen Ende der Leitung. „Benedikt, ich brauche deine Hilfe. Ich habe hier sieben Wandergesellen und wir brauchen noch einen Übernachtungsplatz. “- Kein Problem! Da lässt sich doch eine Lösung finden. Das Rote Kreuz, der Bürgermeister. Irgendwer wird schon eine passende Idee haben. Die liegt quasi in der Hand: Die Zimmerei Bühlbecker könnte ja die richtige Adresse sein, denn die Bühlbeckers verkörpern hier im Ort ja sozusagen das Handwerk. Die wissen doch sicher Rat. Ein Anruf und keine 30 Minuten später sitzen sieben junge Menschen unterschiedlicher Gewerke mit ihrer Kluft und samt Reisegepäck in einem Auto Richtung Hovestweg, wo sie in der Zimmerei Bühlbecker einen warmen Platz für die Nacht gefunden haben. Das ist Wadersloh! Das ist Dorf!
Auf der Walz, um Menschen kennenzulernen und Berufserfahrung zu sammeln
Seit Jahrhunderten ziehen junge Menschen nach ihrer Ausbildung in einem handwerklichen Beruf als Wandergesellen durch das Land, um Berufserfahrung zu sammeln. Zu den Bedingungen zählt, dass man nicht verheiratet ist, noch keine Kinder hat, unter einem Alter von 30 und man schuldenfrei ist. Dann aber zieht man mit leichtem Reisegepäck, einer der Zunft angemessenen Kluft, einer Kopfbedeckung und einem Wanderstock durch die größten Städte und die kleinsten Dörfer. Das Ziel: in Handwerksbetrieben arbeiten, Land und Leute kennenzulernen, Erfahrungen sammeln und regionale Besonderheiten kennenlernen.
Unterwegs verwenden die jungen Männer und Frauen ihren Vornamen, ihre Zunftzugehörigkeit und die Abkürzung des Verbands, dem sie angehören. Helen Fremde (Anm. d. Red. auch als Frd. abgekürzt) Bäckerin V.L.E (das steht für Vereinigte Löwenbrüder und -schwestern Europas) ist seit etwas mehr als vier Jahren unterwegs und kommt eigentlich aus Telgte hier bei uns im Münsterland. In wenigen Tagen wird sie ihre Heimat erreichen und auf den letzten Kilometern wird sie von anderen Wandergesellen begleitet. Mit insgesamt sieben jungen Männern und Frauen zogen die Wandergesellen zu Wochenbeginn von Paderborn über Lippstadt zu uns nach Wadersloh. Ohne Smartphone und mit nur wenig Geld im Gepäck ist das Verständigen nicht immer einfach. Die Gesellen auf Wanderschaft kommunizieren per E-Mail oder traditionell über bestimmte Zeichen, die anderen Reisenden die Richtung weisen. Auch sonst gibt es viele Regeln und Bräuche, wie etwa den Besuch des Rathauses, der besuchten Ortschaften.
Das Ende der Reise nach 4 Jahren und 3 Monaten
Den sieben Wandergesellen merkt man direkt an, wie sehr sie ihren Beruf und das Abenteuer lieben. Offen berichten sie von den vielen Erlebnissen auf ihren Reisen. Bemerkenswert ist auch der Zusammenhalt untereinander. Ansonsten sind Wandergesellen immer wieder auf die Hilfe ihrer Mitmenschen angewiesen, wenn man unterwegs z. B. bei klirrender Kälte eine Unterkunft für die Nacht braucht. Die Menschen begegnen den jungen Handwerkerinnen und Handwerkern fast immer aufgeschlossen. „Man bekommt sehr viel Hilfe. Das ist eigentlich die schönste Erfahrung“, sagt Helen Fremde Bäckerin. Für sie rückt das Ende ihrer langen Reise näher. In den 4 Jahren und 3 Monaten hat sie viel gesehen. In ganz Europa und sogar in Uganda war sie unterwegs und durfte sich in dieser Zeit nie weniger als 50 km an ihre Heimatstadt Telgte nähern. Nun werden die letzten Wanderstempel gesammelt und die Reise geht zu Ende. Für viele weitere Wandergesellen wird ihre Reise erst noch beginnen. Eigentlich schade, dass diese uralte Brauch der Walz seit dem letzten Jahrhundert immer mehr an Bedeutung verloren hat. DANKE an die Wandergesellen für den spannenden Einblick und die inspirierenden Gespräche.
Fotos/Text: B. Brüggenthies