Münster (pm). Am 8. Mai 1945 endete der 2. Weltkrieg. Regierungspräsidentin Dorothee Feller erinnert heute in einem kurzen Statement an den Tag der Befreiung.
„Sehr geehrte Damen und Herren,
rund um den 8. Mai 2020 waren viele größere Gedenkveranstaltungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene geplant, die aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden mussten.
Dennoch dürfen wir auch in diesen Zeiten die Bedeutung dieses Tages nicht vergessen. Wir gedenken heute dem Ende des 2. Weltkrieges und der Befreiung von dem menschenverachtenden Nationalsozialisten.
Wir gedenken des Tages, an dem „erst“ vor 75 Jahren der Krieg in Deutschland und der Welt endete. Ein Krieg, der von Deutschland ausging und uns noch heute mit tiefer Scham erfüllt. Ein schrecklicher Weltkrieg mit Millionen von toten Soldaten und Zivilisten, mit Millionen aus ihrer Heimat Vertriebenen, mit einem grausamen Völkermord an unseren jüdischen Bürgerinnen und Bürgern sowie Sinti und Roma und vielen weiteren Opfern.
Im Jahre 1945 lag Deutschland am Boden: architektonisch, politisch, ökonomisch und vor allem moralisch. Gleichzeitig stellte sich die Frage nach der Herstellung eines dauerhaften Friedens in Europa.
Winston Churchill rief in seiner berühmten Zürcher Rede vor der akademischen Jugend schon im September 1946 zur Gründung der Vereinigten Staaten von Europa auf; wörtlich sagte er: „Es gibt ein Heilmittel, das (…) innerhalb weniger Jahre ganz Europa (…) frei und glücklich machen könnte. Dieses Mittel besteht in der Erneuerung der europäischen Familie, oder doch eines möglichst großen Teils davon. Wir müssen ihr eine Ordnung geben, unter der sie in Frieden, Sicherheit und Freiheit leben kann. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten.“
Die Vorbedingung zur Schaffung eines geeinten Europa lag für ihn in der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland. Er gab zwar Deutschland eindeutig die Schuld am 2. Weltkrieg und sprach sich auch für Bestrafung aus; jedoch: „Wenn all das getan ist, so wie es getan werden wird (…), dann muss die Vergeltung ein Ende haben. (…) Wir müssen in die Zukunft schauen. Wir können es uns nicht leisten, den Hass und die Rachegefühle, welche den Kränkungen der Vergangenheit entsprangen, durch die kommenden Jahre mitzuschleppen. Wenn Europa vor endlosem Elend (…) bewahrt werden soll, dann muss es in der europäischen Völkerfamilie diesen Akt des Vertrauens (…) geben.“
Meine Damen und Herren,
als Winston Churchill diese Rede gehalten hat, war der 2. Weltkrieg gerade ein gutes Jahr zu Ende. Ein Weltkrieg, in dem rund 26 Millionen Soldaten in Europa gefallen sind und in dem rund 29 Millionen Zivilisten ihr Leben verloren haben.
Welches Glück war uns damals beschieden, dass in der Nachkriegszeit Menschen wie Winston Churchill für Europa in der Verantwortung standen, und eben nicht Menschen, die – ähnlich wie nach dem 1. Weltkrieg – nur die Bestrafung Deutschlands im Vordergrund sahen.
Trotz des unendlichen Leids, das Deutschland über die anderen Länder gebracht hat, wurde unser Land sowohl von den europäischen Nachbarn als auch von den Ländern außerhalb Europas aufgefangen. Diese Bereitschaft unserer Nachbarn zur Versöhnung ist in der Geschichte beispielslos.
Vor genau 35 Jahren sagte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa: „Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Verantwortung die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“ 35 Jahre nach der Rede Richard von Weizsäckers und 75 nach Kriegsende müssen wir in Deutschland und Europa erneut Rechtsextremismus und Antisemitismus in Worten und Taten in einer Quantität und Qualität bis hin zur Mordbereitschaft – beobachten, wie wir sie für längst überwunden gehalten hatten.
Gleichzeitig ist die deutsche Gesellschaft laut einer Umfrage des Instituts policy matters für die Zeit keineswegs einig darüber, wie wir weiter mit der NS-Zeit umgehen sollen: 53 Prozent wollen einen Schlussstrich unter diese Zeit ziehen; 59 Prozent finden, das Thema werde ihnen fast täglich in den Medien serviert, und das sei mittlerweile übertrieben.
Aufgrund der Ereignisse in der Welt bleibt es jedoch wichtig, immer wieder zu betonen: Unsere Großeltern, teilweise sogar noch unsere Eltern haben den Krieg erlebt. Menschen, die im Krieg geboren wurden, sind heute erst rüstige 75 oder 76 Jahre alt. Welches Glück ist uns beschieden, seit nunmehr 75 Jahren in Frieden leben zu können?!
Vor 70 Jahren haben wir uns eine Verfassung, ein Grundgesetz gegeben, um das uns viele Nationen beneiden.
Die Mehrzahl der Mitglieder des damaligen Parlamentarischen Rates waren bei der Erarbeitung von den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gezeichnet. Für den neuen Staat, für den sie das Grundgesetz schrieben, sollte als oberstes Gebot gelten: Nie wieder sollte es in Deutschland möglich sein, Menschen im Namen des Staates zu demütigen, zu foltern oder zu ermorden. Der Parlamentarische Rat fasste dies in dem schönen und ausdrucksstarken Satz zusammen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser Grundsatz ist bis heute das unumstößliche Fundament unserer Wertvorstellungen und unseres Handelns.
Und was haben wir Deutsche seither nicht alles geschaffen? Ohne jemals unsere Geschichte zu vergessen, dürfen wir zufrieden darauf schauen: Deutschland lag am Boden und ist heute ein reiches Land. Ein friedfertiges Land, vernetzt und respektiert in der ganzen Welt. Daraus sollten wir Kraft und Zuversicht schöpfen, auch die aktuellen Herausforderungen meistern zu können.
Unsere Bundeskanzlerin hat in ihrer Fernsehansprache vom 18. März diesen Jahres die Coronakrise als die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Und noch kann niemand absehen, wie lange diese Krise dauert. Sicher ist nur, dass uns das Coronavirus mit all seinen Folgen noch lange begleiten wird. Und klar ist auch: In dieser Krise muss sich die Idee des einigen und offenen Europas in gemeinsamem und solidarischem Handeln beweisen. So haben Frankreich, Österreich und Tschechien Italien Masken und Schutzanzüge gespendet, aus Deutschland kamen Beatmungsgeräte. Deutsche Städte und Bundesländer nehmen COVID-19-Patienten aus Frankreich, Italien und den Niederlanden auf. Ärzteteams aus vielen Ländern stellen sich besonders betroffenen Regionen zur Verfügung.
75 Jahre nach dem Kriegsende steht der 8. Mai heute auch als ein Tag der Hoffnung. Wir sind nicht allein. Wir haben und wir sind selbst gute Nachbarn. Die Herausforderungen, die vor uns liegen, werden wir Europäerinnen und Europäer gemeinsam meistern können.“
Quelle: Bezirksregierung Münster