Wadersloh (mw/gast). Als Beitrag für unseren Dorfwettbwerb „Unser Dorf ist bunt“ erreichte uns die Zuschrift von Familie Reineke. Eine 80 jährige „Wadersloherin“ erzählt darin ihre augenzwinkernde Lebensgeschichte. Aus der Sicht eines Fahrrads!
„Sie gestatten, dass ich mich „Dame“ oder sogar Old oder Golden – Lady nenne! Meine geschwungenen Kurven sind nach mehr als 80 Jahren immer noch eindeutig weiblich, auch wenn ich zwischenzeitlich hinten und vorne etwas platt erscheine.
Vielfach in meinem Leben bin ich geschoben (manchmal auch verschoben ?) worden. Besonders wenn ich auch schon in Teenager und- Jugendjahren einen Platten hatte oder eine neue Fahrradkette benötigt hätte. Meine früheste Jugend verbrachte ich in dem katholischen Pfarrhaus der Gemeinde Wadersloh. […] Mein „Geburtsort“ hingegen lässt […] sich nicht genau ermitteln. Auch mein Erzeuger ist nicht ganz sicher festzustellen. Trotzdem (warum trotzdem?) hatte ich eine wirklich gute Jugend in der Hausgemeinschaft des geistlichen Hausstandes in Wadersloh Wilhelmstrasse 1. Wahrscheinlich wurde ich 1938 (erzeugt und) geschaffen.
In den ersten Lebensjahren hat mich Haushälterin des Vikars gehegt, gepflegt, geschmiert und geölt. In der Kriegszeit kam ich an die Heimatfront, in die Fürsorge der Kinderkrankenschwester und Fürsorgerin Frau Irmgard Jolk. Sie war, bevor sie sich als Lehrerin Frau Irmgard Gerwert in der Grundschule einen Namen gemacht hatte, beim Gesundheitsamt in Beckum für Wadersloh und Umgebung beschäftigt. In ihrer beruflichen Tätigkeit musste sie viele Kilometer von Haus zu Haus laufen. Das erzeugte Mitleid in der Pfarrgemeinde. Der Vikar und der Pastor hatten Erbarmen und verschenkte mich als sogenanntes „Dienstrad“ ins Haus Willy Gerwert .
An einem (würdigen ?) Sonntag bekam die spätere Frau Gerwert mich dann von der Haushälterin und von der Pfarrgemeinde in Wadersloh zum Geschenk. Ich wurde vorher geölt, geputzt und vom Pastor auch noch vor der St. Margaretenkirche gesegnet. Ein tolles Erlebnis, die jährliche Segnung der Fahrzeuge! Kutschen, Motorräder, Traktoren und auch schon ein Auto – ob es ein flotter Käfer von VW war, weiß ich nicht so genau – waren versammelt. Ich hatte nur die Glückseligkeit der neuen Besitzerin im Sinn und weiß nicht, ob der plötzliche Tropfen auf dem Lenker aus den Augen der neuen Besitzerin oder aus dem Weihwasserbecken der Ministranten stammte.
Während der folgenden Jahre leistete ich treue Dienste und konnte mich in der Familie Gerwert privat und persönlich sehr nützlich machen, denn die drei Kinder hatten mit mir die Gelegenheit, in die hohe Kunst des Radelns eingeweiht zu werden! Die Zeit verging schnell. So manche Damenräder waren nun schöner und attraktiver geworden. Sie hatten Ketten oder gar Nabenschaltung, bessere Bremsen und Beleuchtung. Wie das bei älteren Damen so ist, ich bemerkte selbst, dass jüngere Modelle attraktiver und interessanter wirkten. Mehrere Jahre verbrachte ich so meine Zeit traurig und verschämt auf dem Dachboden in der Wilhelmstrasse Nummer 10. Ob mich der Schrotthändler holen würde oder ob noch ein junger Prinz kommen und mich erneut erobern könnte?
So träumte ich viele Sommer und Winter auf dem Dachboden vor mich hin. Dann kam er endlich, nach vielen Jahren des Wartens! Der „Ernst“ des Lebens kam ins Spiel! Er fand Gefallen an meinen Rundungen, meiner Figur und meinen Formen!
Zwar war ich schon rostig, alt, platt und staubig, doch er holte mich für nur einen Sommer aus der Einsamkeit heraus und verpasste mir ein neues Aussehen. Vorne und hinten wurde ich wieder prall und rund, ja, einige Teile meine Figur tauchte er sogar in Gold. Hat das schon eine andere Lady in meinem Alter erlebt und erfahren? Ich wurde jetzt ein anderes, wirkliches „Damenrad“ mit einem goldenen Lenker?!
Mein junger Liebhaber zeigte mir nun das neue Wadersloh und seine Umgebung. Wäre da nicht die Abtei in Liesborn, das Schloss in Diestedde und die St. Margaretenkirche gewesen, sowie die Bahnstrecke die alles verbindet, ich hätte geglaubt, ich sei auf einem anderen Stern. Da waren Strassen und Häuser, die gab es 1937 noch nicht, aber manche Gebäude fehlten mir auch. Wie sich die Welt und Wadersloh verändert!
Doch nur einen Sommer erregte ich die Aufmerksamkeit von jungen Frauen, Männern, Nachbarn und neugierigen Passanten, manchmal aber erntete ich auch den Hohn von spöttelnden Bürgen, die mich und meinen jungen Liebhaber belächelten. Doch so ist die Geschichte, ich hatte ja keine Schaltung und war nicht so modern, ein auslaufendes Modell . Wir waren von gestern, ich rostete erneut vor mich hin und bin nun im Stande, ein Denkmal zu werden.
Die Zeit vergeht! Ich will nicht mehr in einen Schönheitswettbewerb oder eine Versteigerung! Ein bisschen Aufmerksamkeit tut mir schon gut! So ist das bei reifen Ladys, wenn die Männer und Frauen heute ein schnittiges E-Bike bevorzugen.“
Text: E. Reineke, Fotos: Privat